Ich mache gerade einen Ferienjob. Nicht bei einem hippen Start-Up in der City sondern bei einem Mittelständler – klein, unbekannt, AUF DEM LAND. Die erste Woche war gewöhnungsbedürftig. Ich fühlte mich zurückversetzt in meine Kindheit. Aufgewachsen in einem 1000-Seelen Dorf in der Nähe von nichts Nennenswertem. Auf die Frage, von wo ich komme habe ich der Einfachheit halber immer die 100 Km entferne Landeshauptstadt genannt. Trotz oder gerade aufgrund des provinziellen Daseins meines Dorfes, bot es mir während meiner Kindheit ein wundervolles Zuhause, das ich nie missen möchte. Wieso? Das Landleben kann herrlich sorgenfrei sein. Wo Stadtkinder schlimmstenfalls angeleint (kein Scherz!) werden, um ja keinen Schritt in die falsche Richtung zu gehen, durften wir Dorfkinder unbeaufsichtigt auf der Straße spielen. Nein, das ist keine Verletzung der Aufsichtspflicht. Denn wenn alle Schaltjahre ein Traktor angetuckert kam, hatte man ausreichend Spielraum den sicheren Gehweg rechtzeitig zu erreichen. Zudem gehören Ü-70-Traktorfahrer eher selten zur Kategorie der Verkehrs-Raudis – da blieb sogar genug Zeit dem vorbeifahrendem Bauern einmal freundlich zuzuwinken. Wo wir auch schon bei der nächsten ländlichen Eigenart wären. Generell grüßen sich alle Dorfbewohner, egal ob verwandt, bekannt oder fremd. „Grüß Gott“ heißt es bei den Alten, die Jugend bevorzugt ein kurzes „Hi“. Dieser über die Jahrzehnte kultivierter Brauch ist in den Städten des 21. Jahrhunderts schon lange ausgestorben. Das merkt man immer daran, wenn ein vermeintliches Kind vom Lande eines Tages in die große Stadt zieht und nichtsahnend die Nachbarin grüßt. Starke Verwirrung bis hin zu abschätzigen Kopfschütteln sind die Folgen – verrückt ist die Welt.
Im Dorf kennt sich jeder. So auch die Kinder der Nachbarschaft. War man mit den Hausaufgaben fertig, wurde ein Spielkamerad nach dem anderen aus dem Haus geklingelt. Der Standardspruch: „Darf Lisa heute zum Spielen rauskommen?“ Die Antwort fiel, bis auf wenige Hausarrest-Tage, immer positiv aus. So hatte man blitzschnell eine ganze Fußballmannschaft zusammen getrommelt. Beim Versteckenspielen konnten wir uns getrost im Nachbarsgarten aufhalten ohne befürchten zu müssen, dass sich dieser über den Lärm oder den zertretenen Rasen beschweren würde. In den Verschnaufpausen versorgte uns meistens eine der Mütter mit Eistüten, die sie zuvor beim wöchentlichen „Eismannverkäufer“ erstanden hatte. Genauso beliebt wie die leckere Tiefkühlkost waren bei uns Kindern Kreidemalfarben, mit denen wir die Straßen rauf und runter tapezierten und dafür noch ein dickes Lob der Anwohner einheimsten „Was ein farbenfrohes Kunstwerk!“. Sowieso hatten wir Kleinen immer eine bevorzugte Stellung. Die Bäckerfachverkäuferin gab uns immer einen Gummifrosch mit auf den Weg, beim Tankwart gab’s einen bunten Lolli, und die Metzgerin hatte stets ein Rädchen Lieblingswurst parat. Unabhängig von den genannten Köstlichkeiten, waren die Einkäufe per se irgendwie besonders. Milch und Eier gab’s im Nachbars Hofladen, frisches Bauernbrot beim Bäcker ums Eck, Gemüse im Tante-Emma-Laden und Getränke im kleinen Fachhandel. Es war ein gemütlicher Einkauf, alle Läden fußläufig, alle Verkäufer gesprächig, vertraut, teilweise neugierig.
Da war ich also. Zurück in der Vergangenheit, mit all den Erinnerungen aus den 90er Jahren – nur das Gefühl ist im Jahr 2016 ein gänzlich anderes. Und nicht nur das hat sich verändert. Es ist ruhiger geworden. Wie ausgestorben auf den Straßen. Keine herumtobenden Kinder, keine bunten Kunstwerke auf dem Asphalt, nur ein grimmig dreinschauender Jugendlicher, der zerknirscht von Haus zu Haus zieht, um die Haushalte mit der wöchentlichen Ration Werbezeitschriften zu versorgen. An den Bushaltestellen ein paar pseudo Gangster, die cool an der längst aus der Mode gekommenen Fluppe ziehen. Hier und da holpern ein paar „best ager“ mit ihren Rollatoren und Gehstöcken über das Kopfsteinpflaster. Die Vögel zwitschern immer noch, jedoch recht einstimmig. Die Mehrheit ihrer einst bewohnten Baumkronen musste für Verkehrsinseln weichen – ebenso die Bäckerei, der Tante-Emma-Laden und die letzte familienbetriebene Pizzeria. Wo sind denn alle hin? In die Stadt gezogen? Oder doch weggestorben? Wahrscheinlich eine Kombination aus beidem, plus, eine miese Zuzugsrate. Wer möchte schon im Dorf wohnen?!
Die Cities locken mit top ausgebauten Infrastrukturen. Die Vielfalt an Einkaufsmöglichkeiten ist kaum zu übertreffen, aus jeder Baugrube schießt ein neues, noch größeres Einkaufszentrum. Die Nachfrage bestimmt das Angebot – die Leute stopfen sich die Tüten voll, bevorzugt bei Kik, TKmaxx oder Primark, Penny oder Aldi. Billig soll es sein und davon bitte ganz viel. Wobei das Wort „Bitte“ in Städten eher ein Fremdwort zu sein scheint, ebenso wie „Danke“, „Hallo“ und „Auf Wiedersehen“. Die Menschen halten hier nicht allzu viel von einem höflichen Umgangston. Verkehrte Welt. Man gewöhnt sich an alles. An „Alter“, „A****L***“, „H****Sohn“ an jeder Straßenecke. Ebenso wie Hundekot, überquellende Mülleimer und Plastiktüten in allen Formen und Farben. Statt Kinderlärm gibt es Autolärm, statt Landluft Smog und wildes Gehupe gratis dazu. Ich befinde mich in der Einkaufmeile. Aus dem Store für junge Mode dröhnen elektronische Rhythmen, nebenan bildet sich eine Menschentraube, die gebannt den sanften Panflötenklängen fünf buntgekleidete Ecuadorianer lauscht. Aus einer Gasse tönen schrille Akkorde eines Straßenmusikers, kaum vernehmbar die flehenden Rufe des verkrüppelten Bettlers zu meinen Füßen. Für Unterhaltungen kein Raum, kein Gehör, keine Zeit. Der Blick ist nach unten gerichtet, auf’s Smartphonedisplay. Städter müssen multitaskingfähig sein. Telefonierend beim Laufen, beim Fahrradfahren, beim Autofahren, beim Treffen mit Freunden…
Wenn es dann doch zu viel Aktivität auf einmal wird, kann man in einen der unzähligen Bars, Cafès und Restaurants rasten. Die vollen Einkaufstaschen abstellen, sich auf einen unbequemen Barhocker fallen lassen, inklusive Körperkontakt zum Tischnachbarn. Leute beobachten. Die große, blondgefälschte Mittel-Agerin, mit dem aktuellen Brillengestell von Prada auf der glatt polierten Nase. Das knochige Handgelenk ziert eine funkelnde Rolex. Die Taschenauswahl verrät ihre Vorliebe für Hugo, Gucci, und Chanel, wobei letzteres ebenso der Rufname ihrer Mopshündin ist. Das glitzernde Halsband im angesagten Neon-Pink passt farblich perfekt zum neuen Shirt ihres Frauchens. Schrille Pfiffe dröhnen in meinem Ohr, ein kurzes Aufsehen der Leute. Ein Demonstrationszug bahnt sich seinen Weg durch das Getümmel der Fußgängerzone. Eskortiert von einer Hundertschaft gepanzerter Polizisten – zu Fuß und hoch zu Ross. Bunte Plakate ragen über den zumeist grauen Köpfen der sich beschwerenden Meute hinweg und prangern das marode Rentensystem an. Von weiter oben vernehme ich die brummenden Rotoren eines Hubschraubers, der das Geschehen aus der Luft verfolgt. Der schwarze Mob ist dieses Mal zuhause geblieben, zum Glück der demonstrierenden Rentner – schade um die organisierten Wasserwerfer, die wohl nicht mehr zum Einsatz kommen werden. Die Sonne sinkt allmählich. Mit der Dämmerung leert sich die Einkaufsmeile von Turis, Shopaholics und all den selbsternannten Musikern – sie machen Platz für das Partyvolk.
Wieder Elektrosounds, dieses mal aus den In-Bars und Studentenkneipen der Stadt. Dazu prickelnder Hugo, Aperol Spritz oder der Klassiker Gin Tonic. Immer schlürfend und lässig an einen Strohhalm festhaltend. Peoplez, die tatsächlich aus dem Glas trinken sind entweder altmodisch oder haben ein verstopftest Trinkrohr. Die Masse bewegt sich im einheitlichen Wiegeschritt zu monotonen Beats. Zum Höhepunkt des Songs werden die Hände für einige Sekunden gen Himmel geschmissen anschließend eskaliert hier und da ein tanzwütiger Performer auf dem Dancefloor, zum Ärgernis der umstehenden Partygäste. Letztere halten in regelmäßigen Abständen die Szenen mit ihren Smartphones per Video-App fest. Für die faulen Kameraleute reicht auch das obligatorische Selfie, das sofort unter den Hashtags #Party #Nightout #Dancefloor #Girls uvm., Likes-erhaschend publiziert wird. Generell sind Hashtags ein sehr beliebtes Stilmittel aller „Generationen der letzten im Alphabet stehenden Buchstaben“. Warum? Wahrscheinlich weil sie so präzise und effizient zugleich sind – getreu dem Motto: Wer geile Subjekte raushauen kann, braucht keine doofen Prädikate und Objekte mehr. „Aufs Maul Alter?!?!?!?!?!“ Wenn unsere Großeltern das wüssten…
Bricht langsam aber sicher ein neuer Tag heran, schleppen sich die letzten Alkoholleichen via Nachtbus nach Hause und geben den ersten schlaftrunkenen Arbeitern die Klinke in die Hand. Die Stadt rastet nie. Dicht an dicht quetschen sie sich in die Sardinenbüchsengleiche U-Bahnen, Busse und Züge. Städte werden größer, die Entfernungen zur Arbeitsstelle ebenso. All diejenigen, die sich den Luxus PKW leisten können, bereuen diesen spätestens an der 20sten roten Ampel oder dem ersten großen Stau. Jetzt nur die acht Stunden Arbeitszeit überstehen und anschließend im Supermarkt hektisch Lebensmittel zusammensuchen, um danach die eingesparte Zeit an der Kasse abzustehen. Nach einer 30 minütigen Parkplatzsuche, endlich wieder zuhause. Die schweren Einkaufstaschen noch kurz ins fünfte Stockwerk schleppen und völlig k.o. auf dem Sofa zusammensacken – noch schnell die Pizza in den Ofen schieben. Das Geschirr im Billy-Regal vibriert, der Student im 6. Stock schmeißt eine Party – wieder an einem Dienstagabend. Der Opa nebenan macht keine Party, aber er liebt Schlager und ist schwerhörig. Gott sei Dank gibt es Oropax, der Retter in der Not. Schnell schlafen, nur noch sechs Stunden bis der Wecker erbarmungslos und viel zu schrill seine Pflicht erfüllt. Der einzige Lichtblick am dunklen Horizont? Das lang ersehnte Wochenende. Wo? Im Schrebergarten, fernab der hektischen Stadtmauern, inmitten von donnernden Bahngleisen, in einer 15 Quadratmeter Parzelle…
Manchmal sehne ich mich still und leise nach meiner unbeschwerten Kindheit im Dorf – nicht im Jahr 2016, in den 90ern, bitte!
Stay inspired <3